Auszug aus einer Arbeit von Lorenz Kocher, ETH Zürich, 2009
Abb. 1.10 Wassili Luckhardt, Projekt für ein Denkmal der Arbeit, 1919-1920
Abb. 1.11 Gordon Bunshaft und Walter Netsch, Projekt für die Kapelle der U.S. Air Force Academy in Colorado Springs, 1957
Wenn man sich auf die Suche nach den Anfängen des Konstruierens mit Faltwerken begibt, lässt sich erahnen, dass keine Arbeit eines Einzelnen, ein erstes Bauwerk, einer Urhütte gleichend, als Ausgangspunkt bestimmt werden kann. Werden zwei ebene, geneigte Scheiben miteinander verbunden, entsteht ein Satteldach ohne Firstpfette, das einfachste aller Faltwerke. Projektentwürfe und ausgeführte Bauten in den 1920er und insbesondere frühen 1930er Jahren zeugen von einer parallelen Entwicklung: Einerseits wurden die neuen Möglichkeiten des Stahlbetons erkannt und bereits Faltwerke mit beachtlichen Spannweiten gebaut, die ersten theoretischen Abhandlungen, massgebend durch die Ingenieure Craemer und Ehlers, anderseits wurden 1929 und 1930 publiziert. Ein Beispiel dafür, dass Entwicklungen in der Baupraxis und der experimentellen sowie theoretischen Arbeit parallel verlaufen und sich gegenseitig beeinflussen.
Abb. 1.2 Faltwerke - Typologien: a. prismatisches Faltwerk, b. pyramidenartiges Faltwerk, c. halbprismatisches Faltwerk, d. pyramidenartiges Faltwerk, e. mehrfaches Faltwerk, f. Spezialfall: Faltwerk aus Hyparschalen, g. Schubwände eines Gebäudekerns als Faltwerk, h. links: First-First Faltung; rechts: First-Kehle Faltung
Die Erfindung des Stahlbetons ist einmalig in der Baugeschichte. Stahl und Glas, Inbegriff eines modernen Bauens, mögen zu einem neuen Ausdruck von Transparenz und Leichtigkeit geführt haben, die Kunst des Konstruierens wurde damit jedoch nicht revolutioniert. Kräfte werden linear abgetragen, Glas bleibt Raumhülle. Jeder Baustoff hat seine Bauweise. Die Möglichkeit, gleichzeitig Zug- und Druckkräfte aufnehmen zu können und dies mit Bauteilen beliebiger Form, ist wohlbekannt. Formale Grenzen setzen hier häufig nur der Schalungsaufwand und das Fliessverhalten während des Betoniervorgangs. Es kommt jedoch auf die Tektonik an, das richtige Fügen der einzelnen Teile zu einem Ganzen. Nicht an erster Stelle das Vergrössern von Querschnitten, besseren Materialeigenschaften, seien es druckfesteren Beton oder höherwertigen Stahl, führt zum angestrebten Widerstand, sondern die Wahl der Form. Und diese Form ist letztlich das Resultat einer geschickten Tektonik. Wenn man bedenkt, dass “die Stahlbetonbauweise im wesentlichen eine Flächentragwerksbauweise ist”, dann führt eine monolithische Verbindung einzelner Flächen direkt zu einem Faltwerk, die “Flächentragwerksbauweise ist also im Kern ein Faltwerk”.(1)
Abb. 1.4 William Turner, Regulus, 1828, überarbeitet 1837
Abb. 1.5 UNESCO Konferenzgebäude, Paris, Faltwerkdecke des Plenarsaals
Eine häufig proklamierte Leichtigkeit in der Konstruktion, das bildliche Überwinden der Schwerkraft, ist nicht nur auf minimiertes Eigengewicht einer Konstruktion, grosse Schlankheit und Entmaterialisierung durch Transparenz zurückzuführen, sondern als Kontrast zwischen Materie und Licht. Dem Architekt wird als Baumaterial nur Materie und Licht gegeben. Damit Licht überhaupt erst in Erscheinung treten kann, bedarf es Dunkelheit, die Bilder von William Turner zeigen dies meisterhaft. Ebenso beruht die subjektive Ästhetik der Faltwerke auf diesem Gegensatz. Wenn nun ein Faltwerk die Funktion als Tragwerk und raumabschliessende Hülle vereint, dann findet man zu einer wahren Anwendung der Stahlbetonbauweise.
Mit den Worten “Scheiben und Faltwerke als neue Konstruktionselemente im Eisenbetonbau” betitelt H. Craemer im Jahr 1929 seinen Beitrag in der Zeitschrift “Beton und Eisen” (2). Gleich im ersten Satz folgt wohl eine der wichtigsten Erkenntnisse: “Eines der wesentlichsten Merkmale der Eisenbetonbauten ist ihre Fugenlosigkeit (Monolithät)”. Ein Tragwerk verformt sich als Gesamtes, folglich beeinflussen sich seine Teile gegenseitig, im Fall eines Faltwerks die einzelnen Scheiben. “Wirtschaftlich konstruieren heisst daher, diesen durch die Fugenlosigkeit entstehenden Spannungsausgleich auszunutzen und gegebenenfalls durch geeignete Anordnung bewusst herbeiführen.” In der Folge lässt sich die Geschichte des Eisenbetonbaus, wie Craemer dies aufzeigt, als eine kontinuierliche Entwicklung sehen, vom Balken, zum Plattenbalken, Durchlaufbalken, Rahmen zur Platte und Schale. Das Stahlbetontragwerk aus der monolithischen Verbindung seiner Einzelteile führt somit im nächsten logische Schritt zu den Scheiben und Faltwerken, wobei die massgebende Einwirkung nun parallel zur Scheibenebene erfolgt. Der Übergang von einer linearen Struktur zu einem Flächentragwerk, also einer räumlichen Struktur, bedeutet, dass Spannungs- und Verformungszustand mehrdimensional wird, was gleichbedeutend mit einer besseren Ausnutzung des Materials ist, “es ist also wiederum die Fugenlosigkeit Grundbedingung der Tragwirkung.
Abb. 1.6 Die geneigten Stahlbetonwände machen durch die grosse Steifigkeit in ihrer Ebene eine horizontale Verbindung zu den Seitenwänden überflüssig.
Abb. 1.7 Grossraumbunker als Faltwerke
Abb. 1.8 Durch die monolithische Verbindung der Scheiben eines Satteldachs wird die Firstpfette überflüssig. Bei genügend grosser Neigung der Scheiben entstehen in der Firstpfette nur Druckspannungen.
Abb. 1.9 Grossraumbunker, gebaut 1925
Zur Erläuterung der Tragwirkung von Scheibe und Faltwerk greifen Craemer und Ehlers auf die damals häufig gebauten Grossraumbunker zurück, wie sie beispielsweise als Getreidespeicher benutzt werden. Die geneigten Stahlbetonwände in Abbildung 1.6 machen durch die grosse Steifigkeit in ihrer Ebene eine horizontale Verbindung zu den Seitenwänden überflüssig. Auch bei den Zellensilos aus Abbildung 1.7 beschreibt Craemer, “mit wie geringen Spannungen die Scheibe ihre Aufgabe, den Balken zu ersetzen, bewältigt, und wie zwecklos es ist, [...] im unteren Teile des Silos kostspielige Träger anzuordnen oder [...] die Zwickel zwischen den Trichtern mit ungeheuren Betonmengen anzufüllen”.(3) Das Satteldach mit der Firstpfette (Abbildung 1.8) wurde bereits erwähnt. Infolge der Fugenlosigkeit ist die vertikale Verschiebung der Firstpfette gleich gross wie diejenige der Scheiben, durch die grosse Steifigkeit in der Ebene wird eine vertikale Kraft hauptsächlich durch die Scheibenwirkung aufgenommen und kann in zwei Komponenten parallel zu den Scheibenebenen zerlegt werden. “Bei derartigen fugenlosen Konstruktionen vertritt also der Knick, sofern er nicht zu flach wird, vollständig die Rolle eines dort angebrachten Unterzugs.(4)
Fast zeitgleich mit Craemer entwickelt auch Ehlers seine Theorie zu den Faltwerken und publiziert sie 1930 in der Zeitschrift “Der Bauingenieur”(5). Ehlers macht seine Erläuterungen ebenso am Beispiel eines Bunkerbaus, einem Kesselhausbunker mit 4000 m3 Nutzinhalt aus dem Jahre 1925 der Wayss & Freytag A.-G., “der dadurch bemerkenswert ist, dass bei ihm ein ganz neuer Konstruktionsgedanke zur Anwendung kam, der der Eigenart der Eisenbetonbauweise in besonderem Masse Rechnung trägt”.(6) Die Spannweite der einzelnen Zellen in Längsrichtung beträgt rund 13 m, die Wandscheiben sind 20 cm und die Bodenscheiben 25 cm dick. Ehlers weist den Leser auf “das vollständige Fehlen aller Träger und Verstärkungsrippen” hin. Nur als “zusammenhängendes System”, der monolithischen Bauweise, kann die Tragwirkung erfasst werden. Es mag erstaunlich klingen, wie zu damaliger Zeit die Scheibentragwirkung entdeckt worden ist, doch so einfach das Prinzip sein könnte, entspricht es häufig nicht der ersten Intuition.
Die folgenden Jahrzehnte bringen eine rasante Weiterentwicklung der Berechnungsmethoden von Faltwerken mit massgebenden Arbeiten von Bron, Tetzlaff und Wlassow. Unzählige Faltwerke werden gebaut, die Formenvielfalt, die sich durch dieses Konstruktionsprinzip ergibt, ist gewaltig und wird im folgenden an einigen Projekten aufgezeigt.
Es zeichnet sich ab, dass die baugeschichtliche Bedeutung der Faltwerke von verschiedenem Ursprung ist. Zum einen sind es die Faltwerke mit ihren Anfängen bei den Industriebauten, des Weiteren aber der gewichtige Schritt, das Entdecken einer Tragwirkung. Das Repertoire der Faltwerke hat sich deswegen bis heute nicht erschöpft, wie dies bei den Schalen sein könnte, die in den 60er Jahren zum Stereotyp geworden sind.(7)
Eine frei geformte Fläche kann mit ebenen Scheiben beliebig approximiert werden, doch sind es meistens nicht diese ornamental gedachten Werke die uns überzeugen. Wenn jedoch die Form eines Faltwerks der Grund ist, wieso überhaupt eine Struktur stabil ist, dann ist die Vorgehensweise umgekehrt: Mittels weniger Scheiben, räumlich geschickt angeordnet, wird der für die gegebene Randbedingung grösstmögliche Widerstand gesucht, um einer effizienten Konstruktion gerecht zu werden.
Abb. 1.12 Marcel Breuer und Hamilton Smith, Saint John’s Abbey, Collegeville, Minnesota, 1953-1961, [Smithonian Archives]
Abb. 1.13 Luftschiffhalle von Orly, Querschnitt
Abb. 1.14 Luftschiffhalle von Orly, Querschnitt einer Faltung
Abb. 1.15 Luftschiffhalle von Orly, Seitenansicht, während dem Bau